Bei uns in der Familie wurde auf Bildung immer großer Wert gelegt. So stand für mich schon im frühen Alter fest, einst das Gymnasium zu besuchen, Abitur zu machen und dann zu studieren – zwei Berufe hatte ich schon mit 13 im Visier: Richter oder Chef einer eigenen Firma. Ich hatte auch keine Schwierigkeiten, im Unterricht gut aufzupassen und meine Hausaufgaben bestens zu erledigen. Soweit ich mich erinnere, gehörte ich bei den Klassenarbeiten meist zu den SchülerInnen mit den besseren Noten.
Trotzdem erhielt ich nicht die Note im Zeugnis, die ich erwartet hatte. Das machte meine Eltern auch ein wenig stutzig. An einem Elternabend fragten sie dann meine Klassenlehrerin, warum ich trotz der guten Noten in den Arbeiten im Zeugnis in vielen Fächern nur eine „3“ oder „4“ erzielen könne. Meine mündlichen Leistungen seien sehr schwach, hatte meine Klassenlehrerin argumentiert und da für sie die mündliche Note mehr zähle, würden die Zeugnisnoten dieses widerspiegeln. Noch am selben Abend erzählte mir meine Mutter von dem Gespräch und machte mir deutlich, dass ich mich von jetzt an viel stärker als bisher auf den mündlichen Unterricht vorbereiten und mich dementsprechend intensiver daran beteiligen müsse. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich diese Argumentation nicht nachvollziehen konnte, zumal ich ohne Zweifel zu den wenigen SchülerInnen in der Klasse gehörte, die sich gerade sehr aktiv am mündlichen Unterricht beteiligten.
Die kommenden Wochen und Monate konzentrierte ich mich explizit darauf, sehr positiv aufzufallen und kurz vor den Zeugniskonferenzen ging ich zu meiner Klassenlehrerin und fragte sie, ob sie jetzt mit meiner Beteiligung zufrieden sei. Ihre Antwort lautete: „Warum fragst du das?“ „Ich möchte unbedingt aufs Gymnasium“ , war meine Antwort und meine Mutter habe mir erzählt, dass ich im Mündlichen keine gute Note erzielen werde, wenn ich so weitermache wie bisher. Daher habe ich sehr an mir gearbeitet. Daraufhin guckte sie mich irritiert an und meinte, Gymnasium sei nichts für mich, ich sollte einen guten Hauptschulabschluss anstreben und dann eine Ausbildung machen, am besten im handwerklichen Bereich, das würde gut zu mir passen.
Mir war zum Weinen, als sie das sagte. Auf dem Weg nach Hause kamen mir auch in der Tat die Tränen. Meine Träume waren in alle Ferne gerückt, nie realisierbar, dachte ich. Was sollte ich nur meiner Mutter sagen, dachte ich. Zu Hause angekommen, sah sie mir sofort an, dass mich etwas stark beschäftigte. Sie nahm mich in die Arme und fragte mich, ob und wenn ja, was geschehen sei. Mit Tränen in den Augen wiederholte ich immer wieder den Satz meiner Klassenlehrerin: “Gymnasium ist nichts für dich!“ Meine Mutter drückte mich fest und versuchte mich zu trösten: „Mach dir bitte keine Sorgen, wir werden eine Lösung finden.“ Und in der Tat kam sie gleich am nächsten Tag nach der Schule auf mich zu und sagte: „Ich habe mich gründlich erkundigt und eine gute Lösung gefunden. "Wir werden dich an einer staatlich anerkannten Privatschule anmelden, wo du die Hochschulreife erlangen und deine Träume verwirklichen kannst.“
Bekannte von uns haben ihre Kinder auf eine Privatschule geschickt und uns in der Vergangenheit immer wieder auch dazu geraten. Aber für meine Eltern kam das nicht in Frage, weil sie sich das Schulgeld nicht leisten konnten. Daher konnte ich diesen Gesinnungswandel nicht verstehen und fragte nur: „Aber Mama, wir haben doch nicht das Geld ? Wie soll das gehen?“ Darauf wiederholte meine Mutter den Ausspruch unseres Propheten, den sie bei vielen Gelegenheiten zitierte: „Prophet Mohammad sagte: Wenn Bildung in China ist, dann reist nach China. Damals war China nicht wie heute schnell mit dem Flugzeug zu erreichen, der Weg dorthin war lang und beschwerlich, und doch riet der Prophet vor knapp 1500 Jahren dazu, weil er Bildung und Wissen höchste Bedeutung beimaß.“ Wir werden weniger reisen, weniger Geld für Kleidung und Schuhe ausgeben, aber stattdessen für deine Bildung ausgeben. Ganz im Sinne unseres Glaubens.“
Und in der Tat – und dafür bin ich meiner Mutter ein Leben lang äußerst dankbar- habe ich mein Abitur mit einer guten Durchschnittsnote erworben, danach an der Universität Volkswirtschaft studiert und führe jetzt erfolgreich ein Unternehmen mit 25 Angestellten. Zu meiner Agenda gehörte von Anbeginn, dass bei der Auswahl meiner Mitarbeiter niemals – NIEMALS – Faktoren wie Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit eine Rolle spielen dürfen – ganz im Sinne meiner Erziehung seitens meiner Eltern, die ihren Ursprung in meinem Glauben hat.